Full-Thinking ersetzt Full-Service
Aufgrund von Verwerfungen im Markt und Veränderungen der Gesellschaft haben Unternehmen alle Hände voll zu tun, ihre Organisation auf Kurs zu halten. Sie sind deshalb auf externe Partner angewiesen, die ihnen die Arbeit nach aussen abnehmen. Dank ihrer Struktur sind Werbe- und Kreativagenturen für diese Aufgabe prädestiniert. Jedoch nur, wenn sie sich von der bequemen Rolle als Auftragsempfänger verabschieden und sich zu einem mitdenkenden, kooperativen Problemlöser entwickeln.
Die Geschäftswelt wird immer komplexer und die Veränderung stetig rasanter. Dem Druck standhalten zu können erfordert von Unternehmen, Konzentration auf das Kerngeschäft und laufende Weiterentwicklung von Organisation und Mitarbeitenden. Weiter sind Partner notwendig, die nicht im Alltagsgeschäft gefangen sind, umfassend mitdenken und kooperativ an echten Lösungen mitwirken können. Wie Werbe- oder Kreativagenturen. Um für die Rolle infrage zu kommen, muss sich der Full-Service- zum Full-Thinking heranwachsen.
Geil – die Marketingleiterin von Migroop hat sich selbst kurzfristig zu einem Briefing in die Agentur eingeladen. Das kann sie. Denn erstens ist sie eine Kundin und die Agentur eine Dienstleisterin und zweitens sind ihre Budgets stattlich und die Kreativen heiss auf Awards. Im Auftrag steht, dass Migroop mit einem neuen Produkt zu sensationellem Schnäppchenpreis ihren Mitbewerbern die im letzten Jahr verlorenen Marktanteile wieder abjagen will. Und dazu braucht die Marketingleiterin die schärfste Idee, welche die Agenturkreativen je für sie entwickelt haben. Die soll auf allen Kanälen für so viel Lärm sorgen, dass Konsumentinnen und Konsumenten in Scharen in die Geschäfte pilgern und das Wunderding kaufen.
Zeitalter der Dienstleister geht zu Ende
So oder ähnlich haben sich in den letzten Jahrzehnten etliche Geschichten abgespielt. Sie haben die Agenturen geprägt, ihnen zu ihrer hierarchischen Struktur verholfen und den Graben zwischen Kreativen und Nicht-Kreativen gezogen. Auch das Verhältnis zwischen Auftraggeber und Agentur entwickelt sich auf dieser Basis. Hier Auftrag und Geld, da Umsetzungsidee und Dienstleistung.
Doch die Zeit ist vorbei. Oder neigt sich zumindest gefährlich steil dem Ende entgegen. Denn die Welt, in der wir leben und geschäften wird immer komplexer. Was uns und den Unternehmen viele Jahre Stabilität und Führung gab, gilt heute nicht mehr als gesetzt. Der gradlinige Verlauf der Entwicklung mal flacher, mal steiler nach oben ist Geschichte. Immer häufiger kommt es zu heftigen Knicken oder gar abrupten Abrissen.
Veränderung im Eilzugstempo
Die Auslöser sind vielfältig. Ob Digitalisierung, künstliche Intelligenz, Klimaerwärmung, Pandemie oder geografische Verschiebung der Kräfte in Wirtschaft und Politik: Sie alle provozieren grundlegende gesellschaftliche Veränderungen und lassen schlummernde Tiefenströmungen an die Oberfläche kommen. In ihrem Sog machen sich immer stärker Wertverschiebungen spürbar und lösen weitere Umwälzungen aus. Dazu kommt der wachsende Einfluss der Generationen Y und Z, die als Konsumenten, Geschäftspartner und Arbeitgeber nachrücken und sich für ihre Interessen stark machen. Daneben pocht die eigentlich vor der Ablösung stehende Generation weiterhin auf ihre Ansprüche, um den Status Quo zu konservieren oder zumindest das Tempo der Veränderung etwas zu bremsen.
Im Spannungsfeld der gesellschaftlichen Veränderungen sind Unternehmen und ihre Angestellten zu Höchstleistungen gefordert.
In diesem Spannungsfeld sind Unternehmen und ihre Angestellten zu Höchstleistungen gefordert. Sie sind dazu verdammt, permanent auf diese Bewegungen zu reagieren und sich nach Möglichkeit anzupassen. Dies verlangt aber, sich andauernd weiterzubilden, neue Allianzen zu bilden und die Organisation immer neu darauf abzustimmen.
Aus Auftragnehmer wird Mitdenker
Wie um Himmels willen sollten die Verantwortlichen für Marken, Marketing und Werbung da noch Zeit finden, sich mit den Veränderungen von Märkten auseinander zu setzen? Gleichzeitig beobachten, wie sich Bedürfnisse bei Konsumenten verändern oder sich Lieferketten bei Geschäftskunden wandeln? Und wer sollte vor diesem Hintergrund noch Zeit finden, eine Agentur mit einem zweckdienlichen Briefing bedienen zu können?
Das geht nicht. Und deshalb ist es höchste Zeit, dass Agenturen und Unternehmen ihre Zusammenarbeit neu definieren. Das Verhältnis Hier-Briefing-da-Idee muss durch eine Kooperation ersetzt werden. Die Agentur ist nicht mehr länger eine Dienstleisterin, die ein Briefing mit einem definierten Auftrag fasst, sich drei bis vier Wochen in ihre heiligen Kreativhallen zurückzieht, um danach umrahmt von einer fulminanten Show ihre genialen, preiswürdigen Ideen zu präsentieren. Die Agentur der Zukunft ist ein Partner auf Augenhöhe, der als aussenstehender Teil des Unternehmens bei der Suche nach Lösungen eine aktive Rolle spielt. An Stelle des alten Briefings tritt eine gemeinsam erarbeitete Definition des zu lösenden Problems.
Kreativität in einer umfassenderen Form
Diese neue Art der partnerschaftlichen Kooperation verlangt auch von den Agenturen, sich neu zu definieren. Sie sind aufgefordert, ihre analytischen und strategischen Fähigkeiten auszubauen sowie ihre Kreativität breiter und tiefer zu definieren. Und noch viel wichtiger: Sie sind gut beraten, Kreativität zu demokratisieren. Die Zeit der kreativen und nicht-kreativen Kasten in den Agenturen ist vorüber.
Agenturen sind aufgefordert, ihre analytischen und strategischen Fähigkeiten auszubauen sowie ihre Kreativität zu demokratisieren.
Um mit der heutigen Komplexität zurechtzukommen, reicht es nicht mehr, sich auf die Kreativität einzelner zu verlassen. Die problemlösende Kreativität, wie sie Unternehmen angesichts ihrer aktuellen Situation heute benötigen, verlangt nach möglichst vielfältig denkenden Teams, die sich aus verschiedenen Richtungen an einen Sachverhalt herantasten. Ihre Diversität garantiert, dass bestimmte Situationen auf unterschiedliche Art bewertet und neue Zusammenhänge gefunden werden. Auf der Basis dieser teils divergenten aber immer facettenreichen Erkenntnissen können tatsächlich neue Lösungen entstehen.
Zukunft bedeutet Full-Thinking
Bedeutend für die neue Aufgabe der Kreativagenturen wird auch sein, sich aus dem Korsett der Kommunikation zu lösen. Kreativität auf eine vorgegebene Richtung beschränkt, verliert gravierend an Potenzial. Nur wenn sich die Agentur ergebnisoffen und frei von jeglichen Vorgaben an die Lösung einer Aufgabe macht, kann die Kreativität ihre ganze Kraft entfalten. Und nur so entstehen Mittel und Wege, mit welchen ein Unternehmen die Hürden der Komplexität überwindet und den Weg zu Kunden und Konsumenten findet.
Unternehmen brauchen künftig nicht Full-Service-, sondern Full-Thinking-Agenturen, wie der deutsche Pitch- und Marketingberater Oliver Klein in einem Interview so treffend formuliert hat. Weiter sind Marken und Organisationen gut beraten, in Zukunft auf Agenturen zu setzen, welche die Kreativität demokratisiert und vom hedonistischen Selbstzweck befreit haben und sie zur Lösung von echten Businssproblemen einsetzen.
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